Ja, er war ein Wissenschaftler, dessen Einfluss weit über die rein wissenschaftliche Sphäre hinausging. Und nein, er war nicht ein Wissenschaftler, dessen Arbeit immer auf einhellige Zustimmung stieß. Aber er war eine herausragende Persönlichkeit. Sein auffälligstes Merkmal ist das eines Denkers, der die Analyse komplexer Gemeinschaften von Tieren mit Überlegungen zu den biologischen Grundlagen des Sozialverhaltens verbindet (und es ist kein Zufall, dass sein ursprüngliches Studienobjekt die Ameisen waren).
Heute fordert uns das Vermächtnis von Edward Osborne Wilson dazu auf, über den Raum nachzudenken, den der Mensch der Natur auf diesem Planeten einzuräumen bereit ist. Indem wir als erstes akzeptieren, dass der Mensch eben ein Teil dieser Natur ist, der er Raum geben muss.
Edward Osborne Wilson starb am 26. Dezember im Alter von 92 Jahren. Schon in jungen Jahren interessierte er sich für die Welt der Insekten. Als Forscher in Harvard beschäftigte er sich mit den Kriterien für die Klassifizierung der verschiedenen Arten und mit den Differenzierungen, die einander ähnliche Tiere vornehmen, um sich an unterschiedliche Umgebungen anzupassen. Dieses Forschungsgebiet, das ihn keineswegs in eine rein beschreibende Analyse verwickelte, brachte ihn dazu, über die sozialen Interaktionen der Insekten und ihre Anpassungsfähigkeit als Gruppe nachzudenken, und so veröffentlichte er 1975 sein vielleicht berühmtestes Werk „Sociobiology: The New Synthesis“.
Die soziobiologische Theorie geht davon aus, dass das Sozialverhalten von Tieren das Ergebnis einer genetischen Vererbung ist, die den Gesetzen der Evolution unterliegt.
Zwar brachte ihm diese Theorie einerseits den Titel „neuer Darwin“ ein (Wilson selbst erklärte, dass diese Idee, in groben Zügen, zuerst von Darwin formuliert worden war [1]), andererseits wurde er dafür von Kollegen an seiner eigenen Universität heftig kritisiert [2]. Trotz der Polemik brachte das Echo dieser Arbeit Wilson beträchtlichen Ruhm ein, der einige Jahre später durch die Veröffentlichung des Buches „On human nature“ [3] noch gesteigert wurde, für das er den Pulitzer-Preis erhielt.
Die Erfolgsgeschichte von Wilson war also ebenso bemerkenswert wie die Kontroversen, die sie auslöste. Im Jahr 1995 wurde er vom Time Magazine zu einem der 25 einflussreichsten Amerikaner und im Jahr 2000 sowohl vom Time Magazine als auch vom Audubon Magazine zu einem der 100 wichtigsten Umweltschützer des Jahrhunderts ernannt. 2005 ernannte ihn Foreign Policy zu einem der 100 bedeutendsten Intellektuellen der Welt [4].
Sein letztes Werk setzt diese Erfolgsgeschichte fort und bestätigt einmal mehr E. O. Wilsons Fähigkeit, sich mit radikalen Thesen und Vorschlägen in die öffentliche Debatte einzumischen und die Kraft zu haben, diese über die bloße Provokation hinaus zu vertreten. Das 2016 erschienene Buch „Half Earth“ löste sofort ein großes Medienecho aus, denn seine These war ein starker und wie üblich sehr klarer politischer Vorschlag: die Hälfte des Planeten der Natur zu überlassen und ihr den Raum zu geben, den sie braucht, um sich selbst erhalten und regenerieren zu können.
Das Buch wurde von einem Projekt begleitet, das versucht, die Idee in die Praxis umzusetzen: https://www.half-earthproject.org/. Doch auch in diesem Fall blieb Wilsons Vorschlag nicht von Kritik verschont, von der einige zweifellos begründet war. Als Beispiel habe ich eine Passage aus einer Rezension des Buches in der Zeitschrift Kirkus ausgewählt.
„Obwohl der Autor zweifellos gut über die Natur des Problems informiert ist, ist er hinsichtlich der Lösung konfus. Auf den letzten Seiten weicht er der Frage aus, wie wir diese 50 Prozent des Planeten freigeben sollen, und stellt stattdessen Überlegungen zu technologischer Innovation und intensivem Wirtschaftswachstum an, die das Verhalten des Einzelnen und die Welt verändern“.
Wenige Tage vor dem Tod von E. O. Wilson hat ein Team von 16 Wissenschaftlern, die an Universitäten in den USA, Schweden, den Niederlanden, Australien und dem Vereinigten Königreich tätig sind, Wilsons Idee aufgegriffen. Sie haben versucht, sie in einer Weise zu interpretieren, die einen wichtigen Beitrag dazu leistet, die Debatte zu neuen Horizonten zu führen. Einschließlich möglicher Praktiken und Strategien. Die Arbeit wurde am 18. November 2021 in „Frontiers in Conservation Science“ [6] veröffentlicht und trägt einen Titel, der bereits eine klare programmatische Absicht hat: „Protecting Half the Planet and Transforming Human Systems Are Complementary Goals“ [7].
Ich fasse ihn hier nach Punkten zusammen und lade euch ein, ihn vollständig zu lesen.
Das Konzept, das E. O. Wilson mit „Half nature“ zum Ausdruck bringen wollte, wurde häufig mit dem Ausdruck „nature needs half“ („die Natur braucht die Hälfte“ des Planeten) verkauft, was die Vorstellung vermittelt, dass die Menschheit und die Natur zwei gegensätzliche Elemente sind. Die Menschheit muss sich als Teil der Natur verstehen. Der Schutz der biologischen Vielfalt und das Wohlergehen der Menschheit sind ein und dasselbe.
Die Einbindung indigener Gemeinschaften ist entscheidend für den Schutz der Natur. Ich zitiere direkt: „Umweltschutzmaßnahmen müssen in Zusammenarbeit mit indigenen Völkern und lokalen Gemeinschaften geplant und umgesetzt werden“.
Die Weltbevölkerung wächst in einem Ausmaß, das eine Herausforderung für die Ressourcen dieses Planeten und die Koexistenz mit anderen Arten darstellt. Wenn wir jedoch wirklich das Ziel haben, diese Zuwachsraten der Weltbevölkerung zu reduzieren, gibt es keinen anderen Weg, als die Stellung der Frauen zu verbessern und ihre Rechte zu erweitern und zu stärken.
Das Ziel ist die Schaffung einer Welt in besserer Ausgewogenheit. Einer gerechteren Welt. Einer Welt, die in der Lage ist, die Ungleichgewichte zu überwinden, die die Menschheit dem Planeten und auch sich selbst auferlegt.
Eine grünere Welt ist eine gerechtere Welt, das war der Anspruch der Kampagne, die wir bei Treedom anlässlich des Weltumwelttages 2021 gestartet haben und es ist ein Konzept auf der Grundlage des Manifests, das wir in diesem Jahr veröffentlicht haben, um unser Engagement zu fokussieren und ihm eine breitere Bedeutung zu verleihen.
Wir denken:
„ … haben wir bei Treedom versucht, eine Kampagne zu entwickeln, die unsere Interpretation des Weltumwelttages wiedergibt, wobei wir von dieser Annahme ausgehen: Wir sind die Umwelt. Die Sichtweise, die den Menschen auf der einen Seite und die „Natur“ auf der anderen Seite einordnete, ist nunmehr durch eine Vision ersetzt worden, die den Menschen als verantwortlichen Akteur in der von ihm bewohnten Umwelt sieht. Seine Bedürfnisse und Bestrebungen werden nicht abgestritten, sie müssen jedoch „nachhaltig“ sein. Mit anderen Worten: Sie müssen mit der Perspektive einer an Leben so reichhaltigen Welt für die kommenden Jahre und Generationen vereinbar sein“.
Mit dem Tod von Edward Osborne Wilson verliert die Welt eine Stimme, die in der Lage war, anzuregen, zu analysieren, zu provozieren und herauszufordern. Dieses Vermächtnis am Leben zu erhalten – das wir auch ein wenig als das unsere sehen – bedeutet, dass wir uns auch in Zukunft dieser Herausforderung stellen müssen.
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